Workshop „Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880–1940“
Anlass für den Workshop, der sich der Rekonstruktion von Beobachtungs- und Selektionsmechanismen in den staatlichen Bildungssystemen widmet, sind die aktuellen Debatten um Inklusion und Umgang mit sogenannten „heterogenen Lerngruppen“ im Bildungssystem.
Erst als die Schulpflicht gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts auch flächendeckend durchgesetzt war, wurden in den sich international etablierenden Jahrgangsklassen immer stärker Vergleiche in Bezug auf den Schulbesuch, Sozial- und Lernverhalten sowie die Lernerfolge möglich. In der Folge konnten einzelne Schüler*innen als auffällig identifiziert werden und wurden möglicherweise auch zu „Störfaktoren“ im Unterrichts- und Schulbetrieb. Schulabsenzen, vorzeitiger Schulabgang sowie mangelnder Lernerfolg waren Schwierigkeiten, die die Schulen insgesamt betrafen. Zwei der besonders auffälligen institutionellen „Symptome“ dieser Entwicklung sind die Entstehung der sogenannten Hilfsschule am Ende des 19. Jahrhunderts und – davon nicht zu trennen – die Schaffung von Schularzt- sowie von Erziehungsberatungsstellen und schulpsychologischen Diensten. Aufgrund des starken Ausbaus (durch Verlängerung der täglichen Schulbesuchszeiten und auch der im Lebenslauf generell) und durch die zunehmende Ausdifferenzierung des Schulsystems wurde die Frage der „richtigen“ Zuteilung und Behandlung von Schulkindern immer entscheidender. Die Art, wie Schüler*innen beobachtet wurden, veränderte sich: Am Ende des 19. Jahrhunderts begannen, so Tenorth, die „wissenschaftlichen Referenzsysteme“ der Pädagogik „zu Medizin, Psychologie und Psychopathologie“ hin zu wechseln. Diese Transformation, die bis heute den Diskurs und die Praktiken im Bildungssystem prägt, ist im größeren gesellschaftlichen Kontext von Urbanisierung und Modernisierung, der neuen Bedeutung von Wissenschaft und Statistik sowie von Kindheits- und Jugendphase zu verstehen.
Bislang galt der Geschichte des Beobachtens, Beurteilens und Testens von Schulkindern nur eine geringe Aufmerksamkeit. Zudem beschränken sich die vorhandenen Arbeiten zumeist entweder auf die Sonderschule oder die „normale“ Schule, auch der transnationale Austausch von Beobachtungs-, Beurteilungs- und Testtechniken wurde bisher kaum erforscht.
Die unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte der drei am Workshop beteiligten Professor*innen Prof. Dr. Vera Moser (Humboldt-Universität zu Berlin, Geschichte der Sonderschule), Prof. Dr. Sabine Reh (BBF und Humboldt-Universität zu Berlin, Geschichte der pädagogischen Beobachtung und Prüfung) und Prof. Dr. Patrick Bühler (Pädagogische Hochschule der Nordwestschweiz, Geschichte schulnaher Beratungsdienste; von Schulärzt*innen, Schulpsychiater*innen, Erziehungsberatungsstellen, Schulpsychologischen Diensten) und der Mitarbeiter*innen erlauben es in diesem Workshop ein besonderes Augenmerk auf die kaum untersuchten Schnittstellen zwischen den verschiedenen Bereichen, den unterschiedlichen Schulen und den unterschiedlichen politischen Kontexten zu legen.
Theoretisch und methodisch schließt der Workshop an aktuelle kulturwissenschaftliche Debatten an, indem er einer historischen Praxeologie verpflichtet ist. So sollen im Workshop Praktiken des Beobachtens, Beurteilens und Testens von Schüler*innen (und deren Konsequenzen), die dafür eingesetzten Medien (Tests, statistische Verfahren etc.) sowie die damit verbundenen Wahrheitsansprüche untersucht werden.
Der Workshop findet an der BBF statt. Für Interessent*innen stehen noch wenige Plätze zur Verfügung. Bitte wenden Sie sich an das Sekretariat der BBF (Christine Heinicke, E-Mail: heinicke[at]dipf.de).
Tagungsband:
Reh, Sabine/Bühler, Patrick/Hofmann, Michèle/Moser, Vera [Hrsg.]: Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880–1980. Bad Heilbrunn : Verlag Julius Klinkhardt 2021. (Bildungsgeschichte. Forschung - Akzente - Perspektive) (Online:: urn:nbn:de:0111-pedocs-222669)