Tagung »100 Jahre Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung«
Vor 100 Jahren verfasste Siegfried Bernfeld (1892–1953) mit der Schrift »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« (1925) eine scharfe Kritik an der in seinen Augen unwissenschaftlichen Pädagogik sowie an einer Erziehung, die lediglich der Reproduktion der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, nicht aber der Verwirklichung von Mündigkeit der nachkommenden Generation dienlich sei.
Auch heute noch fordert dieser Band durch seine pointierte Argumentation theoretisch heraus. Es erscheint keineswegs ausgemacht, dass die Kritik des »Sisyphos« von der Erziehungswissenschaft und speziell der Schulpädagogik substantiell aufgenommen und die Frage ihrer Gültigkeit geklärt worden ist. Daher nimmt die Zeitschrift Pädagogische Korrespondenz das 100-jährige Jubiläum des Erscheinens des Bandes zum Anlass, in Kooperation mit der BBF, zu einer Tagung einzuladen, um den »Sisyphos« unter verschiedenen Perspektiven erneut zu betrachten und zu diskutieren. Ziel ist es, die Thesen Bernfelds noch einmal eingehend in den Blick zu nehmen, auf ihre Aktualität hin zu befragen und zur Reflexion des Entwicklungsstandes der Disziplin zu nutzen.
Die Tagung wird veranstaltet in Kooperation mit dem DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, der Europa-Universität Flensburg und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Programm:
Stand: 04.12.2025
Donnerstag, 30.01.2025
Ab 13:30 Uhr Empfang & Anmeldung
14:00 Uhr
Eröffnung und Einführung in die Tagung
Prof. Dr. Sabine Reh (Direktorin der BBF) und Dr. Sieglinde Jornitz (DIPF, für das Herausgebergremium der Pädagogischen Korrespondenz)
14:30
Historische Konstellationen eines Textes - Lektüren und Aneignungen von »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung«
Prof. Dr. Sabine Reh (BBF)
Der Vortrag wird im Sinne einer ‚tour d’horizon’ skizzieren, in welcher historischen Situation Siegfried Bernfelds »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« einerseits entstand und in welcher historischen Konstellation er andererseits um 1970 herum neu und dennoch verschoben und verschieden rezipiert wurde. Das soll als Hintergrund dafür dienen, ihn gegenwärtig – aber eben nicht historisch blind – noch einmal neu unter bestimmten schultheoretischen Fragestellungen zu lesen.
15:30 Uhr Kaffeepause
16:00 Uhr
Bernfelds Erziehungswissenschaft
Prof. Dr. Volker Schubert (Stiftung Universität Hildesheim)
Der polemische Ton des Sisyphos täuscht leicht darüber hinweg, dass das Buch den Entwurf einer nahezu kompletten Erziehungswissenschaft enthält, die allen gängigen Standards von Wissenschaftlichkeit entspricht. Mit seiner Skizze erprobt Bernfeld eine anthropologische Grundlegung, die sich mit ihrem doppelten Zugang an klassischen Mustern in modernisierter Gestalt orientiert: psychoanalytische Theorieelemente für Psychologie, marxistische für (Gesellschafts-) Philosophie oder Ethik. Beide betonen die durchgängige Konflikthaftigkeit menschlicher Existenz, insbesondere auch der Generationenverhältnisse. Sie bilden »Grundpfeiler«, stellen selbst aber noch keine Erziehungswissenschaft dar. Genutzt werden sie nicht zur Legitimation von Erziehung oder Erziehungszielen, sondern zur Problemexposition und zur Generierung von Fragestellungen, an denen zu arbeiten Aufgabe einer künftigen Erziehungswissenschaft wäre.
17:00 Uhr
Freud als »Schutzpatron einer neuen Erziehungswissenschaft?« – ein Versuch der Würdigung des Sisyphos aus psychoanalytischer Perspektive
Prof. Dr. Rolf Göppel (Pädagogischen Hochschule Heidelberg)
Nach kurzen Rückblicken auf die Rezeptionsgeschichte – die eigene, persönliche Geschichte mit dem »Sisyphos« und die wechselhafte Geschichte der akademischen Erziehungswissenschaft mit diesem Werk, sollen die einzelnen psychoanalytischen Argumentationslinien, die Bernfeld in den drei Teilen des »Sisyphos« mehr oder weniger systematisch entfaltet, herausgearbeitet und einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Stets geht es dabei darum, dass nach den verborgenen, unbewussten Kräften und Prozessen gefragt wird, die in den unterschiedlichen Bereichen, mit denen es die Pädagogik in Theorie und Praxis zu tun hat, am Werk sind: Schon die Gewinnung eines halbwegs realistischen Kindbildes wird nach Bernfeld durch die Einmischung unbewusster, erkenntnisfremder, unkontrollierbarer Affekte erschwert noch mehr die angemessene Einschätzung der Wirkungen und Grenzen bestimmter erzieherischer Mittel und Programme. Und auch in der praktischen Gestaltung pädagogischer Beziehungen sind die Akteure nach Bernfeld viel mehr von unbewussten Motiven und Kräften geleitet, als ihnen lieb und bewusst ist.
19.00 Uhr Gemeinsamen Abendessen (auf eigene Kosten)
Freitag, 31.01.2025
9:00 Uhr
Zur Instituetik der deutschen Schule: was sie kann und was sie (nicht) soll
Prof. Dr. Anke Wischmann (Europa-Universität Flensburg)
Wie steht es mit der Forderung Bernfelds nach einer empirischen Instituetik? Diese Frage bildet den Ausgangspunkt des Beitrags. Bernfeld hat bekanntlich kritisiert, dass die Pädagogik bzw. die »Pädagogiker« sich ausschließlich auf Ausgestaltung von Unterricht beziehen oder allein die duale pädagogische Beziehung in den Blick nehmen. Dass diese immer durch gesellschaftliche Verhältnisse (mit)hervorgebracht wird, bleibt weitgehend unbeachtet. Dies hat sich inzwischen verändert und die Schule als gesellschaftliche und auch (national)staatliche Institution wurde und wird umfänglich beforscht. Allerdings ist fraglich, ob diese Forschung Konsequenzen hat und wenn ja welche. In dem Beitrag soll insbesondere die Funktion von Schule als nationaler, also deutscher, und weißer Institution beleuchtet werden. Dabei geht es um die Frage nach dem Zusammenhang von Zugehörigkeit und Bildung, die empirisch mit Blick auf die Konstruktion von zugehörigen und nicht-zugehörigen Schüler*innen diskutiert werden soll.
10:00 Uhr
»Sisyphos« im Spannungsfeld von Geltungs-, Angemessenheits- und Akklamationsdiskursen
Prof. Dr. Andreas Wernet (Leibniz Universität Hannover)
Eine zentrale Stoßrichtung des »Sisyphos« besteht in einem Plädoyer für eine nüchterne (heute würde man sagen: evidenzbasierte) Erziehungswissenschaft und gegen eine Pädagogik und ihre falschen Versprechungen. Allerdings handelt es sich bei dem »Sisyphos« selbst um alles andere als eine nüchtern argumentierende Schrift. Bernfeld spart nicht mit scharfen, zum Teil aggressiven Polemiken. In meinem Vortrag werde ich aus einer diskursanalytischen Perspektive diese eigentümliche Spannung eines ‚wütenden Einklagens von Sachlichkeit‘ ins Zentrum rücken.
11:00 Uhr Kaffeepause
11:30 Uhr
Zu Siegfried Bernfelds kritischer Würdigung der Didaktik. Eine objekt- und wissenschaftstheoretische Lektüre des »Sisyphos«
Prof. Dr. Marion Pollmanns (Europa-Universität Flensburg)
Im »Sisyphos« stellt Siegfried Bernfeld die Didaktik als diejenige Abteilung der Pädagogik dar, die bereits vergleichsweise wissenschaftlich vorgehe und von der man insofern meinen könnte, sie könne als Vorbild/ Modell der als unwissenschaftlich geziehenen Pädagogik dienen. Dieser (relativen) Würdigung der Didaktik als Wissenschaft soll nachgegangen werden, indem das dem »Sisyphos« zugrundeliegende Verständnis von »Didaktik« und die dort von Bernfeld verfolgte Konzeption von Wissenschaft(lichkeit) herausgearbeitet werden. Im Zuge der Klärung, inwiefern seine Kritik Geltung beanspruchen kann, wird auch der Vermutung nachgegangen, die Würdigung, die Bernfeld zunächst ausspricht und dann wieder zurücknimmt, verhalte sich unkritisch zum pädagogischen Problem unterrichtlicher Vermittlung und seiner wissenschaftlichen Bearbeitung.
12:30 Uhr
Kommentar
PD Dr. Thomas Wenzl (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
& Abschlussdiskussion
Ab 13:30 Uhr Imbiss und Ausklang
Ort:
BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF
Warschauer Str. 36, 10243 Berlin, 1. OG, Raum 136
Anfahrt
Zeit:
30. & 31. Januar 2024
Kontakt:
Dr. Sieglinde Jornitz (DIPF | Leibniz-institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und Redaktion »Pädagogische Korrespondenz«)
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Teilnahme und Anmeldung:
Die Teilnahme an der Tagung ist kostenfrei. Wir bitten um eine verbindliche Anmeldung zur Tagung bis Freitag, 10. Januar 2025, einschließlich der Angabe, ob Sie am gemeinsamen Abendessen (auf eigene Kosten) teilnehmen möchten, per E-Mail an Christine Heinicke (Yy5oZWluaWNrZUBkaXBmLmRl).
Mit der Teilnahme erklären Sie sich einverstanden, dass Sie gegebenenfalls auf Aufnahmen zu sehen sind, die im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der BBF verwendet werden.